beziehungsweise 4/2025Artikel 3

Werdende Eltern

Wie Menschen Familie gründen oder erweitern

Von Sylvia Jäde  

In den oft defizitorientierten öffentlich-medialen Debatten um Elternschaft und Familie spiegeln sich wissenschaftliche und politische Diskurse wider, in denen ebenso rege über Bildung(serfolg), Erziehungsstile, Gendergerechtigkeit, Geburtenrückgang oder etwa Migration diskutiert wird. Dabei wird seltener mit als über Eltern gesprochen. Klar scheint jedoch, wie/wer ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Eltern sind. Dadurch und durch die strukturelle Rücksichtslosigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft (Peuckert 2019) gegenüber Familien, die diese strukturell überfordert, geraten Eltern unter Druck ‚richtig‘ zu handeln. Dabei kann Familienwerdung als besonders vulnerable Phase mit vielen Herausforderungen beschrieben werden. Diese müssen werdende Eltern in Familie, Paarbeziehung, mit ihren Kindern und dem Umfeld bearbeiten. Wir wissen allerdings aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive bisher eher wenig darüber, wie Eltern das genau machen und wie sie die Zeit des Übergangs zur (erneuten) Elternschaft erleben. Hier setzt die Studie an, die eben diesen Übergang zum zentralen Forschungsgegenstand hat (Jäde 2024).

Forschungsleitend sind drei Fragen: Woran orientieren sich werdende Eltern
(1) in der Ausgestaltung des Übergangs zur (erneuten) Elternschaft, 
(2) in der alltäglichen Erziehungspraxis und 
(3) in der alltäglichen Herstellung von Familie und Elternschaft?
Fokussiert wird also, wie Personen, die Eltern werden, Elternschaft, Familie und Übergänge aktiv tun.

 

Art der StudieQualitative Längsschnittstudie mit drei Erhebungszeitpunkten zwischen 2018 und 2020 – je drei Interviews pro Familie
- t1 während der Schwangerschaft
- t2 ca. 6 Monate und
- t3 ca. 12 Monate nach der Geburt
Sample

9 Familien (8 heterosexuelle Paar- und 1 Einelternfamilien):
- 5 Erst-Eltern
- 3 Mehrfacheltern
- 1 hybrider Fall mit Patchworkkonstellation

Samplekriterien

- Erst- und Mehrfachelternschaft
- Bildungsabschluss 

Erhebungsmethodeteilnarrative Paar- und bei der Einelternfamilie Einzelinterviews
AuswertungsmethodeDokumentarische Methode (Bohnsack 2017)

Zwei Typen des Übergangs zur Elternschaft
Anhand von sechs Ankerfällen (insgesamt 18 Interviews) wurden zwei Typen rekonstruiert: der affektiv-selbstläufige Typ A und der gestaltend-planvolle Typ B. Die Typen sind als Pole eines Kontinuums der Übergangsbearbeitung zu verstehen. Eltern des Typs A orientieren sich an der Selbstläufigkeit von Prozessen. Elternschaft wird hier als ‚natürliche‘ Erweiterung der Paarbeziehung konzipiert. Typ B folgt in der Praxis einer grundlegenden Planungsorientierung. Elternschaft wird als verantwortungsvolle Aufgabe markiert, auf die sich Eltern durch planerisches Verhalten einstellen (müssen). Der gestaltend-planvolle Typ B rahmt zwei Subtypen. Eltern des zielorientiert-direktiven Subtyps B1 orientieren sich im Übergang vorrangig an ihren eigenen Vorstellungen, die auch für die Kinder als Leitlinie gelten. Dagegen involvieren Eltern des beziehungsorientiert-partizipativen Subtyps B2 die Kinder und richten sich an kindlichen Bedürfnissen aus. In Subtyp B1 geben die Eltern den Plan vor, in Subtyp B2 bestimmen die Kinder den Plan zumindest anteilig mit. Im Folgenden stehen ausgewählte Ergebnisse mit besonderer gesellschaftlicher Relevanz im Zentrum. 

Familienalltag, gemeinsame Zeit und Arbeitsteilungsmodelle …
… müssen als komplexe Praxisvollzüge aktiv hergestellt werden. Die Befragten stehen im Übergang zur (erneuten) Elternschaft vor der Herausforderung, unterschiedliche Lebensbereiche und soziale Beziehungen neu zu organisieren. Es geht nicht nur um Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder mehr Zweisamkeit. Werdende Eltern sind auch mit beziehungstransformatorischen Prozessen bezogen auf Herkunftsfamilien, Freund:innen oder erstgeborene Kinder konfrontiert, die im Alltag bearbeitet werden müssen. Dabei stabilisieren sich im affektiv-selbstläufigen Typ A die Lebensmodelle eher, während der Übergang im gestaltend-planvollen Typ B zum Teil zur (punktuellen) Destabilisierung führt und zum Katalysator für bestehende Paarkonflikte wird. Bei einer Orientierung an Planung(ssicherheit) erzeugt der mit Unvorhersehbarkeiten gespickte Übergang zur (erneuten) Elternschaft zusätzlichen Druck. Diesem können die (werdenden) Eltern in der ohnehin angespannten und vulnerablen Situation nur unter größter Anstrengung und durch Abstriche in bestimmten Bereichen standhalten – zum Beispiel durch eine temporäre Pause der Paarbeziehung.

Mit der gesellschaftlichen Norm der sogenannten ‚aktiven/neuen‘ Väter* setzen sich alle Befragten auseinander. Deutlich wird, dass väterliche* Beteiligung an Familienarbeit und Care (1) immer in Abhängigkeit zur Erwerbsarbeit gedacht werden muss. Letztere beschreiben alle Väter* – je nach Unternehmenskultur mehr oder weniger – als einschränkend. Wichtig sind (2) auch geschlechterdifferenzierende Sichtweisen der Befragten auf Mutter- und Vaterschaft und diesbezügliche gesellschaftliche Leitbilder. Zudem können (3) geschlechterdifferenzierende Adressierungen von werdenden Eltern bei der Familiengründung – durch Angehörige, Freund:innen, Professionelle, Politik – dazu führen, dass sich ‚klassische‘ Arbeitsteilungsmodelle etablieren. Diese Aspekte werden von (4) wohlfahrtsstaatlichen und familienpolitischen Maßnahmen gestützt, die strukturell weiterhin eher ‚klassische‘ Lebensmodelle bevorzugen. Für die Befragten zeigt sich für die Arbeitsteilung insgesamt eine Gleichzeitigkeit ‚neuer und alter‘ Geschlechternormen und eher ‚traditioneller, wie modernerer‘ (Leit-)Bilder von Mutter- und Vaterschaft. 

(Pädagogische) Diskurse um ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Eltern(schaft) …
… beginnen schon bei der ‚Kinderfrage‘. Sie entspinnen sich für Frauen* oft schon deutlich früher. Fragen wie ‚Wann werden Kinder geboren?‘ oder ‚In welcher Lebenssituation?‘ zielen darauf zu klären, ob Personen sich ausreichend mit ihrer zukünftigen Elternverantwortung auseinandergesetzt haben. So sind ‚Teenager-Mütter‘ zum Inbegriff ‚unverantworteter‘ Elternschaft geworden, während ‚späte Mutterschaft‘ aktuell zum Ideal avanciert. Mütter* werden auch weiterhin als Hauptverantwortliche für die Realisierung gesellschaftlich gesteckter Ziele für Erziehung und Bildung adressiert. Väter* wiederum sollen heute ‚nicht mehr nur‘ Familienernährer* sein. Eltern müssen sich zu gesellschaftlichen Adressierungen verhalten und haben dabei auch Ansprüche an sich selbst. In alltäglichen, verhältnisbestimmenden Suchbewegungen zu den beiden Positionen kommt es so zu Spannungen und/oder Passungen. Dabei wird anhand der Ergebnisse deutlich, wie individuelle und gesellschaftlich-diskursive Perspektiven auf Elternschaft und Familie in der konkreten Alltagspraxis ineinandergreifen. 

Erziehung, Kind(heits)bilder und kindliche Entwicklung
Mit dem ‚PISA-Schock‘ Anfang der 2000er Jahre wurde ein vermehrtes gesellschaftliches und politisches Interesse an frühkindlicher Bildung geweckt. Dabei werden vor allem institutionell-öffentliche Betreuungssettings fokussiert. Einblicke in Familien und früheste Kindheiten fehlen dort viel zu oft. Bemerkenswert ist, dass sich die Befragten im ersten Lebensjahr ihrer Kinder und zum Teil schon vor der Geburt extensiv mit Erziehungsfragen auseinandersetzten. Zudem zeigte sich bei einem Teil der Eltern eine diskursive Erziehungspraxis mit sehr jungen Kindern, die erst ein Jahr oder jünger waren. Die Studie bietet hier wegweisende empirische Einblicke zur Familienerziehung in frühesten Kindheiten, die im Diskurs bisher oft unberücksichtigt bleiben. Ferner ließen sich Kind(heits)bilder und alltagstheoretische Annahmen der Eltern über kindlihce Entwicklung rekonstruieren, die für Eltern in ihrer Alltagspraxis handlungsleitend sind, wenn es um frühkindliche Förderung geht. Diese Befunde helfen zu verstehen, wie Kind(heits)bilder und alltagstheoretische Entwicklungskonzepte in Verbindung mit elterlichen Selbstverständnissen bereits im ersten Lebensjahr zu einer unterschiedlichen entwicklungs- und bildungsbezogenen Förderung von Kindern führen können. Das ist deshalb relevant, da es sich um ein empirisch fundiertes Erklärungsmuster für Bildungsungleichheiten handelt, die schon in frühester Kindheit entstehen und sich in aktuellen Bildungssystemen oft weiter verstärken. 

Fazit
Die Studie nimmt sich einer erziehungswissenschaftlich weitgehend unerforschten Phase familialer Lebenspraxis an und liefert durch den Vergleich des Übergangs in Erst- und Mehrfachelternschaft wichtige Befunde für Familienerziehungs- und die erziehungswissenschaftliche Geschwisterforschung. Deutlich wird, dass der Übergang zur (erneuten) Elternschaft als komplexer sozialer Prozess verstanden werden muss. Werdende Eltern bewältigen den erforschten Übergang im Kontext struktureller Überforderung, während sie zugleich Aufgaben für die Gesellschaft erbringen – durch Erwerbsarbeit oder die Übernahme von Betreuungs- und Pflegeaufgaben. Die erarbeiteten Befunde sind dabei aus gesellschaftlicher Sicht relevant hinsichtlich

(1) der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Wirtschaft und Familienpolitik), 
(2) des Abbaus von Bildungsungleichheiten (Bildungspolitik) sowie 
(3) der Verbesserung von Erziehungs- und Bildungspartnerschaften (pädagogische Praxis). 

Buchcover Werdende Eltern

Literatur

Bohnsack, Ralf (2017): Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen: Barbara Budrich.

Jäde, Sylvia (2024): Werdende Eltern. Eine rekonstruktive Studie zum Übergang zur (erneuten) Elternschaft. Wiesbaden: Springer VS. doi.org/10.1007/978-3-658-46483-7

Peuckert, Rüdiger (2019): Familienformen im sozialen Wandel. Wiesbaden: Springer VS. 9. Aufl.

Autorin

Dr.in Sylvia Jäde ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Erziehungswissenschaft mit sozialpädagogischem Forschungsschwerpunkt am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Rekonstruktiven Sozialforschung, Forschungsethik, offene Kinder- und Jugendarbeit, (sozial-)pädagogische Familien- und Übergangsforschung. 

Kontakt

sylvia.jaede@uni-osnabrueck.de